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Sozialpolitik in der BRD

Sozialpolitik in der DDR

Chronik ausgewählter Entscheidungen deutscher Sozialpolitik

1875-1944

22.05.1875 Deutsches Reich

Vom 22. bis 27. Mai 1875 findet in Gotha der Vereinigungskongress der Sozialdemokratie statt. Gegründet wird die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. In ihrem Programm enthalten sind die Forderungen: Ein den Gesellschaftsbedürfnissen entsprechender Normalarbeitstag, Verbot der Sonntagsarbeit und der Kinderarbeit und aller die Gesundheit und Sittlichkeit schädigende Frauenarbeit, Schutzgesetze für Leben und Gesundheit der Arbeiter, sanitäre Kontrollen der Arbeiterwohnungen, Überwachung der Industrie- und Bergbaubetriebe durch von den Arbeitern gewählte Beamte, ein wirksames Haftpflichtgesetz, volle Selbstverwaltung für Arbeiter-, Hilfs- und Unterstützungskassen.

15.06.1883 Deutsches Reich

Erlass des „Gesetzes betreffend der Krankenversicherung der Arbeiter“ durch Reichskanzler Otto von Bismarck. Es ist weltweit die erste gesetzliche Krankenversicherung und sichert Arbeiter und Beschäftigte in Handwerks- und Gewerbebetrieben ab. Die Arbeiter tragen zwei Drittel, die Unternehmer ein Drittel der Beiträge. Als Leistungen werden erbracht: Freie ärztliche Behandlung, freie Arzneimittel, kleinere Heilmittel, im Falle der Arbeitsunfähigkeit Krankengeld ab 3. Tag von mindestens 50 Prozent des Lohnes (Höchstdauer 26 Wochen), Sterbegeld in Höhe 20facher Lohn, Wöchnerinnenunterstützung für vier Wochen nach Niederkunft. Die Krankenversicherung gilt in der BRD als die zentrale Säule des Gesundheitssystems.

Das Sterbegeld der Krankenversicherung wird in der BRD im Rahmen des neoliberalen Umbaus (Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003) zum 01.01.2004 abgeschafft.

06.07.1884 Deutsches Reich

Das „Unfallversicherungsgesetz“ tritt in Kraft. Beitragspflichtig sind nur die Betriebsinhaber. Bei einem Betriebsunfall wird der Verunglückte unabhängig von der Schuldfrage ab der 14. Woche und damit nach Ablauf der Krankenversicherung entschädigt. Die Unfallversicherung, eine Berufsgenossenschaft der Betriebsinhaber, trägt die Kosten des Heilverfahrens oder zwei Drittel des Arbeitslohnes als Rente bei völliger Erwerbsunfähigkeit. Bei einem tödlichen Betriebsunfall kommen die Gelder den Hinterbliebenen zugute: Witwen erhalten 20 Prozent des Verdienstes ihres Mannes. Die Unfallversicherung gilt zunächst nur für Fabriken, Bergwerke und Steinbrüche und wird später auch auf Arbeiter in der Forst- und Landwirtschaft übertragen.

24.05.1889 Deutsches Reich

Verabschiedung des „Gesetzes über die Invaliditäts- und Altersversicherung durch den Reichstag unter Reichskanzler Otto von Bismarck. Als Altersrente wird sie als sogenannter Sicherheitszuschuss zum Lebensunterhalt erst ab Vollendung des 70. Lebensjahres gezahlt, was weit über der durchschnittlichen Lebenserwartung der Arbeiter (40 Jahre) zu dieser Zeit liegt. Die Rente wird primär im Falle einer Arbeitsinvalidität ausgezahlt. Alle Arbeiter zwischen 16 und 70 Jahren müssen nun in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Der Beitragssatz beträgt 1,7 Prozent und wird jeweils zur Hälfte von Firmeninhaber und Arbeiter getragen.

14.10.1891 Deutsches Reich

Das Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) greift auf ihrem Erfurter Parteitag vom 14.-20.10.1891 die Kritik von Karl Marx am Gothaer Programm auf und entwickelt Forderungen zum Schutz der Arbeitskraft. Gefordert werden u.a.: wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung durch Festsetzung eines höchstens 8 Stunden betragenden Normalarbeitstages, Verbot der Erwerbsarbeit von Kindern unter 14 Jahren, Verbot der Nachtarbeit mit Ausnahme technisch bedingter oder der Wohlfahrt dienender, ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in der Woche für jeden Arbeiter, Verbot des Trucksystems, Reichsarbeitsamtsüberwachung der Betriebe und Regelung der Arbeitsverhältnisse, gewerbliche Hygiene, Beseitigung der Gesindeordnung, Sicherstellung des Koalitionsrechtes, Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich und maßgebliche Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung sowie die Forderungen nach Entgeltfreiheit ärztlicher Hilfeleistungen einschließlich Geburtenhilfe und Hilfsmittel.

02.04.1905 Deutsches Reich

7. Frauenkonferenz der SPD in Weimar. Erfolglos wird die Einführung eines Frauentages gefordert.

26.08.1910 Deutsches Reich

Sozialistische Frauenkonferenz vom 26.-27.08.1910 in Kopenhagen. Die US-amerikanische Sozialistin bringt die Idee eines Frauenstreiktages ein. In den USA hatten Frauen der Sozialistischen Partei 1908 ein nationales Frauenkomitee gegründet und einen ebensolchen Kampftag für das Frauenstimmrecht initiiert. Auf der Konferenz setzen sich besonders die Sozialistinnen Clara Zetkin und Käthe Duncker für die Idee ein. Beschlossen wird: "Im Einvernehmen mit den klassenbewußten politischen und gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats in ihrem Lande veranstalten die sozialistischen Frauen aller Länder jedes Jahr einen Frauentag, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient ... Der Frauentag muß einen internationalen Charakter tragen und ist sorgfältig vorzubereiten." Der erste Frauentag in Europa wird am 19.03.1911 mit dem zentralen Thema Frauenwahlrecht gefeiert und ist so vor allem auch eine sozialdemokratische Kundgebung. Trotz Widerstand in der SPD wird der Frauentag jährlich organisiert, bis die Revolution 1918 auch das Frauenwahlrecht erzwingt. Der Frauentag ändert seine Gestalt. Die SPD-Führung gibt ihren Widerstand gegen einen Frauentag erst mit dem Vereinigungsparteitag von SPD und USPD 1923 auf.

11.06.1921 Weimarer Republik

Auf der II. Internationalen Kommunistischen Frauenkonferenz am 11.06.1921 wird auf Initiative von Clara Zetkin der 8. März als internationaler Frauentag deklariert. Das Datum erinnert an den 8. März 1917, an dem im zaristischen Russland Frauentags-Demonstrationen den Auftakt zu einer landesweiten massiven Streikwelle bildeten, die am 10. März in einen Generalstreik und schließlich in den Aufstand mündete. Von Anbeginn steht mit dem Frauentag auch die Forderung nach legalisiertem Schwangerschaftsabbruch im Zentrum. Jährlich sterben in Europa tausende von Frauen infolge unsachgemäßer illegaler Eingriffe, millionenfach zu Abtreibungen gezwungen, weil sie ihre Kinder nicht ernähren können.

01.12.1923 Weimarer Republik

Im Rahmen des Ärztestreiks gegen die Krankenkassen stellen Berliner Ärzte am 01.12.1923 die Versorgung der Versicherten auf Krankenschein ein und verlangen Barzahlung bei Behandlung. Ausgangspunkt war die reichsweite Forderung nach höheren Honoraren. Den Krankenkassen obliegt in der Weimarer Republik die Sicherstellung der ambulanten Versorgung. Die Kassen reagieren mit der Errichtung eigener Behandlungsstätten, in denen bei den Kassen angestellte Ärzte tätig werden. Diese sogenannten Ambulatorien halten die kostenfreie Behandlung aufrecht und verknüpfen die Einrichtungen mit der sozialreformerischen poliklinischen Idee, die bereits während des I. Weltkrieges entstanden war. Die Idee zielte vor allem auf die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterfamilien, wurde von der Mehrheit der Ärzteschaft abgelehnt, jedoch von der Sozialdemokratie, die auch die Mehrheit der Kassenvorstände stellte, unterstützt. In der Folge entstehen bis März 1924 bereits 32 über ganz Berlin verteilte Ambulatorien und werden vom Kassenverband weiter ausgebaut und sogar für die Versorgung mitversicherter Angehöriger genutzt. 1929 arbeiten in den 42 Ambulatorien 213 Ärzte und über 500 weitere Beschäftigte. Nach der juristischen Beendigung des Berliner Ambulatorienstreites, der Auseinandersetzung zwischen Ärzten und Krankenkassen 1928, schränkt die Entscheidung der Gerichte den Ambulatorienbetrieb zunehmend ein. Am 01.01.1934 stellen die Nazis den Betrieb der Ambulatorien dann vollständig ein. Das erste 1923 in Berlin in Form einer Poliklinik gegründete Kassenarzthaus (Poliklinik, Ambulatorium, Ambulanz wurden seit den 1900er Jahren synonym verwendet) begann seine Arbeit in dem vormaligen Kaufhaus "Haus am Zentrum" und entstand 1948 unter der heutigen Adresse Karl-Marx-Allee 3 als erste Berliner Poliklinik nach dem Krieg als "Haus der Gesundheit" wieder. In der BRD obliegt die Sicherstellung der ambulanten medizinischen Versorgung der 1931 per Notverordnung eingeführten Kassenärztlichen Vereinigung. Die bis dahin ambulant tätigen Vertragsärzte wurden zwangsweise übernommen. Die Ablehnung poliklinischer Versorgung durch die Ärzteschaft in der Weimarer Republik wurde vor gleicher Interessenlage beim Anschluss der DDR geteilt.

07.06.1927 Weimarer Republik

Das „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" (AVAVG) wird mit einer Vier-Fünftel-Mehrheit im Reichstag verabschiedet. Damit wird zum 1.10.1927 das System der Erwerbslosenfürsorge durch eine versicherungsbasierte Existenzsicherung der Arbeitslosen abgelöst und die Arbeitslosenversicherung in das inzwischen etablierte Sozialversicherungssystem integriert. Dafür hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass Arbeitslosigkeit nicht auf individuelles Verschulden zurückführbar ist, sondern einen gesellschaftlichen Risikobereich von existentieller Bedeutung für die Arbeiterschaft darstellt. Die Bismarckschen Reformen zielten bis dahin auf die soziale Integration der Arbeiterschaft und die finanzielle Kompensation sozialer Risiken. Entsprechend seiner Risikostruktur birgt das System in der Folge in besonderem Maße Haushaltsprobleme und wird so immer wieder Schwerpunkt politischer Auseinandersetzungen. Vorausgegangen war die Verpflichtung der Gemeinden am 13.11.1918, unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges, im Rahmen der Demobilmachung eine von der Armenhilfe unabhängige Erwerbslosenfürsorge einzurichten. Im Gefolge lang anhaltender Massenarbeitslosigkeit wird das Fürsorgeprinzip kontinuierlich um versicherungstechnische Elemente erweitert. Im Gegensatz zu Unternehmern, Gemeinden, dem Staat und auch den nichtsozialistischen Gewerkschaften setzt sich der überwiegende Teil der Gewerkschaften für den Fortbestand der Fürsorgeleistungen ein, da sie die Allgemeinheit für Arbeitslosigkeit verantwortlich sehen, die Kosten also von allen getragen werden sollten. 1923 werden die bis dahin ausschließlich durch den Staat (Reich, Länder, Gemeinden) aufgebrachten Mittel durch einen entgeltbezogenen Beitrag der versicherten Arbeiter erweitert. Er beträgt 1924 3% des Grundlohns. 1926 steigt die Zahl derer, die in diesem Krisenjahr ihren Leistungsanspruch erschöpft haben. Ähnlich der Arbeitslosenhilfe wird ein zweites Unterstützungssystem geschaffen, dessen Finanzierung sich die Gemeinden (ein Viertel) und die Länder (drei Viertel) teilen. Damit ist der Umgestaltung zur beitragsbasierten Arbeitslosenversicherung und der steuerfinanzierten Krisenfürsorge der Weg gewiesen. Am 1.10.1927 tritt als letztes Reformwerk der Weimarer Republik das Gesetz über die Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in Kraft. Die Arbeitsverwaltung wird selbstverwaltete Körperschaft mit Vertretern der Unternehmer, der Arbeiter und des Staates. Vermittlung der Arbeitslosen und deren materielle Absicherung stehen im Zentrum. Zugunsten des Rechtsanspruchs auf Versicherungsleistung wird die Bedürftigkeitsprüfung abgeschafft. Neu eingeführt wird die Orientierung der Arbeitslosenunterstützung an den letzten drei Arbeitsentgelt-Monaten. Unter der großen Koalition der Regierung Hermann Müller (SPD) werden die Anspruchsvoraussetzungen verschärft, Anspruchsdauer verkürzt und das Leistungsniveau gesenkt. Flankiert werden diese Einschränkungen durch öffentliche Thematisierung von Missbräuchen der Arbeitslosenversicherung; der Begriff Arbeitsscheue wird geprägt. Darauf aufbauend legt die Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände "Reform"vorschläge vor, die u.a. die Aufhebung des Rechtsanspruchs auf Leistung durch Wiedereinführung der Bedürftigkeitsprüfung und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln verlangt. Mit der AVAVG-Novelle des Präsidialkabinetts Brüning/von Papen werden sozialpolitische Leistungen vollends finanzpolitischen Einsparstrategien unterworfen. Die Beiträge werden drastisch erhöht, die Arbeitslosenversicherung hat sich ausschließlich aus Eigenmitteln zu finanzieren. Mit der Erweiterung der Sperrzeiten verschärfen sich disziplinierende Strukturen. Der Solidarcharakter der Arbeitslosenversicherung wird im Gefolge weitestgehend außer Kraft gesetzt.

08.03.1931 Weimarer Republik

Der sozialdemokratische Frauentag steht am 8. März 1931 unter der Losung "Gegen Krieg und Nazi-Terror - für Sozialismus und Frieden". In diesem Jahr kommt es auf Frauentagsdemonstrationen zu massenhafter Solidarisierung mit den verhafteten Ärzten Else Kienle und Friedrich Wolf, die unter deren Druck freigelassen werden. Sie standen unter dem Verdacht, Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt zu haben. Wolf fordert auf einer Frauentagskundgebung: "Schluß zu machen mit einer Gesellschaftsordnung, die nicht imstande ist, allen Menschen Arbeit und Brot zu geben und die Frauen dazu zwingt, Kinder für ein menschenunwürdiges Leben in Not, ohne eine Perspektive auszutragen." 1930 hatte die Polizei in Berlin Frauentagsveranstaltungen der Kommunistinnen noch aufgelöst. Der für 1933 vorbereitete Frauentag kommt im Gefolge der Machtübertragung an Hitler nicht mehr zustande und wird durch die faschistische Regierung sofort offiziell verboten. In das Zentrum des sogenannten National-Sozialismus rückt der Muttertag als Tag der arischen, deutschen Mutter. Der Frauentag lebt im Widerstand fort.

08.12.1931 Weimarer Republik

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) wird per Notverordnung eingeführt. Bis dahin in ambulanten Einrichtungen tätige Vertragsärzte werden übernommen und sind seitdem dort (mit Unterbrechung durch das Gesundheitswesen der DDR) zwangsweise organisiert.

14.06.1932 Weimarer Republik

"Notverordnung über Maßnahmen zur Erhaltung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialversicherung sowie zur Erleichterung der Wohlfahrtslasten der Gemeinden." Mit dieser Notverordnung hebt die Regierung v. Papen das Versicherungsprinzip der Arbeitslosenversicherung auf. Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Arbeitslosenunterstützung auf Fürsorgeniveau abzusenken, die Bedürftigkeitsprüfung für Versicherungsleistungen einzuführen und Beitragsüberschüsse für andere Unterstützungssysteme zu verwenden. Damit werden die Leistungen der Arbeitslosenversicherung, der Krisenfürsorge (steuerfinanziertes Sozialgeld für in der Versicherung ausgesteuerte Arbeitslose) und Armenfürsorge unter das bisherige Niveau der öffentlichen Fürsorge, d.h. des gemeindlich finanzierten Armenexistenzminimums gedrückt. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente erfahren einen Bedeutungswandel. Das Ziel, Arbeitslosigkeit durch staatliche Beschäftigungsmaßnahmen zu mindern, wird aufgegeben. Mit der Notverordnung vom 05.06.1931 werden die gemeinnützigen arbeitsvertraglichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) zurückgedrängt. Diese Notverordnung führt zur Errichtung eines freiwilligen Arbeitsdienstes, der kein Arbeitsverhältnis mehr begründet. Der Arbeitsdienst richtet sich an Jugendliche, um "zum Nutzen der Gesamtheit im gemeinsamen Dienste freiwillig ernste Arbeit zu leisten und zugleich sich körperlich und geistig-sittlich zu ertüchtigen“, wird zunehmend in geschlossenen Lagern umgesetzt und mit der Notverordnung vom 16.07.1932 noch ausgebaut. Mit wachsender Arbeitslosigkeit erfährt der Arbeitsdienst hohen Zulauf, zumal die Teilnehmer (auch Nichtleistungsempfänger) mit der Förderung Kost und Unterkunft zu sichern im Stande sind. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise erzielt die Arbeitslosenversicherung so einen beachtlichen Beitragsüberschuss, der nun zur Finanzierung bisher steuerfinanzierter Fürsorgeleistungen herangezogen wird. Der finanzielle und sozialpolitische Rückzug des Staates geht mit der Propaganda individueller Vorsorge und radikaler Favorisierung von Selbstverwaltung einher. In der NSDAP-regierten Kommune Coburg wird bereits 1931 ein Arbeitsdienst-Lager unter dem Leitsatz "Keine Wohlfahrtsunterstützung ohne Arbeit" betrieben. Hitler knüpft später daran an und erklärt die Arbeitsdienstpflicht zu einem Grundpfeiler seines Regierungsprogramms. Die Arbeitslosenversicherung in faschistischer Zeit knüpft an die konservativ-autoritären Regelungen zum Ende der Weimarer Republik an und konzentriert sich nicht mehr auf die Sicherung der Arbeitslosen, sondern auf die Lenkung der Arbeitskraft im Interesse der Wirtschafts- und Gesellschaftsziele des Regimes. Die Arbeitslosenversicherung wird im Gefolge erfolgreicher Arbeitsbeschaffungspolitik (Reichsarbeitsdienst etc.) zur beitragsfinanzierten Reichsfürsorge, deren Leistungen von Bedürftigkeitsprüfung abhängig gemacht wird.

03.05.1933 faschistisches Deutschland

Reichskanzler Hitler erklärt die Anerkennung der NS-Volkswohlfahrt (NSV), einer aus SA-Hilfsdiensten hervorgegangenen Organisation, zur Gliederung innerhalb der NSDAP. Die NSV beansprucht, die Selbsthilfe des deutschen Volkes zu repräsentieren; ihr werden alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge des Deutschen Reiches übertragen. Die NSV setzt neben dem "Öffentlichen Gesundheitsdienst" (ÖGD), der für die Politik der Ausgrenzung nicht "erbgesunder" und "nicht wertvoller" Mitglieder der "Volksgemeinschaft" zuständig ist, so das Konzept der Volkspflege um. Entsprechend faschistischer Ideologie fördert dieses System "aufbauender Volkspflege" nicht mehr Kranke und Schwache, wie in der Weimarer Republik, sondern orientiert sich auf die Förderung "erbgesunder Elemente des Volkes" bei Verhinderung einer Fortpflanzung und Vermehrung "Minderwertiger". Die Förderung des Individuums wird abgelöst durch Förderungen, die die sogenannte Volksgemeinschaft stärken; Wohlfahrtspflege wird zur "Volkspflege" bei Ausgrenzung des Fremden und "Minderwertigen". Mit der Orientierung auf Selbsthilfe gelingt es der NSV, enormes ehrenamtliches Engagement und Spendenmittel zu mobilisieren. Im Mittelpunkt steht offene Fürsorge, organisiert in Hilfswerken, deren größtes das Winterhilfswerk ist. Das Hilfswerk Mutter und Kind baut ein Netz von Beratungs- und Hilfestellen vor allem im ländlichen Raum und in vernachlässigten Gebieten auf, organisiert wirtschaftliche Unterstützung für junge Familien sowie der Mütter- und Kindererholung. Umfangreich aufgebaut werden Kindergärten, ein Sektor, der vordem den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden oblag. In Verwirklichung ihres Ziels, die öffentliche Fürsorge der Gemeinden auf die Armenpflege und die privaten Wohlfahrtsverbände auf die Anstaltspflege zu beschränken, wird die NSV ab 1938 zur beherrschenden Kraft.

26.05.1933 faschistisches Deutschland

In das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) werden die §§ 219 (Verbot der öffentlichen Ankündigung von Abtreibungsmitteln) und 220 (Verbot des öffentlichen Anbietens von Diensten zur Abtreibung) wieder eingeführt. Vordem, seit dem 18.05.1926, waren § 218 geringer strafbewehrt gefasst und § 219 und § 220 gestrichen. Erreicht hatte dies in der Weimarer Republik eine Massenbewegung gegen den Schandparagraphen 218, die aus der Aktualität, Brisanz und Verbreitung des Themas gewachsen war. Katholische Kirche, NSDAP, bürgerliche Parteien, bürgerliche Frauenvereine und der Deutsche Ärztebund fordern seine Beibehaltung bzw. Verschärfung. Für KPD und SPD ist es in ihren gegeneinander gerichteten Wahlkämpfen allerdings ein erfolgloses Thema. Die KPD fordert parlamentarisch regelmäßig Streichung der Paragraphen und Amnestierung Betroffener. Die SPD hatte 1920 ebenfalls erfolglos einen Antrag im Reichstag eingebracht, nach dem Abtreibung straflos sein soll, „wenn sie von der Schwangeren oder einem staatlich anerkannten (approbierten) Arzt innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft vorgenommen“ worden ist. Am 14.07.1933 wird das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" erlassen. Mit dem Änderungsgesetz zur staatlich aufgezwungenen Zwangssterilisation vom 26.06.1935 wird Abtreibung bis zum sechsten Monat legitimiert. Mit der „Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft“ vom 09.03.1943 verschärft, wird Zuchthaus- und Todesstrafe bei Abtreibungen deutscher Staatsangehöriger deutscher Volkszugehörigkeit wieder eingeführt. Zwangsabtreibungen im Gefolge rassenbiologischer Indikation an jüdischen Frauen und an Frauen, die als Zwangsarbeiterinnen nach Deutschland verschleppt worden waren, sind rechtlich legitimiert. Das faschistische Bekanntmachungsverbot zu Abtreibung bleibt in der BRD und nach dem Anschluss der DDR in Deutschland bis zum Jahr 2018 als § 219b in Kraft. Der § 218 war in der BRD 1956, bereinigt von der 1943er Fassung, auf den Stand von 1933 und am 25.06.1969 durch das "Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts" auf den Stand von 1926 zurückgesetzt worden und wurde 1976 als „erweitertes Indikationenmodell“ modifiziert.

04.07.1934 faschistisches Deutschland

Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens. Mit dem Gesetz werden in allen Städten und Gemeinden staatliche Gesundheitsämter geschaffen, die dem Reichsministerium des Innern unterstellt werden. Als zentraler Verwaltungsapparat zur Umsetzung wird der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) geschaffen. Neben den Aufgaben der Gesundheitsvorsorge und Seuchenbekämpfung wird damit die "Erb- und Rassenpflege" Staatsaufgabe. Die Gesundheitsämter führen gemäß den verschiedenen "rassehygienischen" Gesetzen massenhaft Gesundheitsuntersuchungen durch. Zu Grunde liegen das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14.07.1933, das "Reichsbürgergesetz" vom 15.09.1935 und das "Blutschutzgesetz" vom 15.09.1935 wie auch das "Ehegesundheitsgesetz" vom 18.10.1935. Ärztliche Begutachtungen werden damit für die Gewährung von Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen und Leistungen im Rahmen des Hilfswerkes Mutter und Kind erforderlich, genauso wie für den ganzen Bereich bevölkerungs- und familienpolitischer Unterstützungen, die in der Zeit des Faschismus erstmals die Gestalt eines eigenständigen sozialpolitischen Bereichs annehmen. Der Ausbau des faschistischen Sozialstaates mit seiner Beschränkung auf die "wertvollen" Teile "Volksgemeinschaft" erfolgt unter radikalem Bruch mit den bürgerlich-demokratischen Traditionen des Wohlfahrtsstaates (bürgerliche Gleichheit) und vor dem Hintergrund der realen Entmachtung der Arbeiterschaft auch im Gefolge der Demagogie eines nationalen Sozialismus. Mit dem ÖGD übernimmt das Reich zentrale Funktionen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Neue sozialpolitische Leistungen werden im Bereich der Familien- und Bevölkerungspolitik entwickelt, Frauen und Mütter werden mit ihren bevölkerungsreproduktiven Aufgaben aufgewertet. Adressat ist der rassisch definierte "Volksgenosse".

05.07.1934 faschistisches Deutschland

Der faschistischen Terrorwelle im Deutschen Reich, die zunächst vor allem auf die Vernichtung der Organisationen der Kommunisten und Sozialdemokraten gerichtet ist, fallen ebenso die Selbstverwaltungsorgane der Sozialversicherungen zum Opfer. In erster Linie werden jene Einrichtungen angegriffen, die seit dem Kaiserreich von der Arbeiterbewegung geprägt waren (Knappschaften und Ortskrankenkassen). Deren Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzende werden in Haft genommen, die Selbstverwaltung wird zerschlagen und etwa 15 Prozent des Personals, politische Gegner und Juden werden entlassen. Zu Grunde liegt das „Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung“ vom 5. Juli 1934. Der Aufbau völkischer Hilfsorganisationen beginnt. Die Sozialversicherung wird im Weiteren nach dem Führerprinzip reorganisiert. Die ehrenamtliche Verwaltung durch Ausschuss und Vorstand wird abgeschafft. Beiräte sind nunmehr ohne Mitspracherecht und werden nicht mehr gewählt, sondern ernannt, unter Einflussnahme der Deutschen Arbeitsfront. Bis 1939 unterschreiten die Leistungen der Sozialversicherung das bereits niedrige Niveau aus der Endphase der Weimarer Republik. Während des Krieges ab 1939 erfolgt, auch unter Nutzung von Beutegut, insbesondere jüdischen Vermögens, eine sozialstaatliche Expansion für „Volksgenossen“ (Ausweitung der Arbeiterversicherung hin zur „Volksversicherung“, Krankenversicherungspflicht für Rentner 1941, Leistungsverbesserung der knappschaftlichen Rentenversicherung 1942, Umstellung der Unfallbetriebsversicherung auf Personenversicherung und Ausweitung auf alle Arbeiter, Verbesserung des Krankengeldes, Rentenerhöhungen).

05.09.1939 faschistisches Deutschland

Mit der „Verordnung über die Arbeitslosenhilfe“ wird die Arbeitslosenversicherung faktisch beseitigt und durch eine Grundsicherung („Hauptunterstützung“ und Familienzuschläge für Angehörige) abgelöst. Bereits am 22.12.1937 wird die Begrenzung der Bezugsdauer der Arbeitslosenhilfe aufgehoben. „Arbeitslosenunterstützung erhält, wer dem Arbeitseinsatz zur Verfügung steht, aber unfreiwillig arbeitslos ist.“ Zu dieser Zeit des Kriegsbeginns herrscht fast Vollbeschäftigung.

22.10.1943 faschistisches Deutschland

Einführung einer unbezahlten Freistellung für nicht-jüdische deutsche Frauen, die in der Kriegswirtschaft tätig sind. Grundlage bildet die "Anordnung des Reichsarbeitsministers über Arbeitszeitverkürzung für Frauen, schwerbeschädigte und minderleistungsfähige Personen" (Freizeitanordnung) vom 22.10.1943. Weiblichen Gefolgschaftsmitgliedern steht damit ein unbezahlter Hausarbeitstag zur "Erledigung häuslicher und persönlicher Angelegenheiten" pro Monat zu, wenn sie einen eigenen Hausstand und Kinder unter 14 Jahren zu versorgen haben. Bereits kurz nach dem Kriegsende bringen mehrheitlich Kommunisten und Sozialdemokraten in den neu gebildeten Landtagen Gesetzesentwürfe zur Einführung eines monatlichen bezahlten Hausarbeitstages für Frauen ein. Die Initiative wird mit großer Begeisterung aufgenommen und im Westen von den britischen und amerikanischen Besatzungsbehörden bestätigt. In Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen wird ein gesetzlicher Anspruch auf 12 bezahlte Hausarbeitstage im Jahr eingeräumt, verliert sich jedoch im Laufe der Zeit. Zu einer bundeseinheitlichen Regelung kam es nie. In der DDR wird der Hausarbeitstag vor dem Hintergrund schwierigster Arbeitskräftesituation erst 1952 eingeführt. Der durch die Frauen in der DDR gern und notwendig genutzte Haushaltstag wird im Gefolge des Anschlusses im Dezember 1991 staatlich abgeschafft.